Der Riese von Reiden

Bruno Bieri

Luzern 1577
Riese von ReidenEin ganz gewöhnlicher Tag.

Regen, Regen, Regen

Doch so ganz gewöhnlich war dieser Tag auch wieder nicht, denn aus dem schier endlosen Regen entwickelte sich ein heftiger Sturm, ein Orkan, der über das ganze Land tobte.

„DER DRACH IST AUSGEFLOGEN"!

Die Leute in der Stadt kannten solche Unwetter. Wenn der Krienbach über die Ufer schoss, Bäume mit sich riss, Häuser beschädigte und die Stadtbevölkerung in Angst und Ban­gen versetzte, dann pflegten sie zu sagen: „Es ist ein Drach ausgeflogen'.

Vor langer Zeit hausten auf dem Pilatus und in der Umge­bung von Luzern riesige Würmer und Drachen. Bei unsicherer Wetterlage sah man sie wie ein Feuerbrand vom Pilatus ge­gen den Rigiberg schiessen. Die Drachen brachten immer Unheil über die Stadtbevölkerung. Ungeheure Regengüsse oder schwere Wassernot waren das Resultat.

Renward Cysat sah in dieser Zeit einen Drachen bei eindun­kelnder Nacht von der Rigi zum Pilatus fliegen. In diesem Sommer gab es eine grosse Wassernot.

Reiden
Etwas später Der Sturm hat sich beruhigt, doch die Schäden sind sehr gross.

Unter einer umgestürzten Eiche entdeckt ein zerlumpter Wandergesell ein seltsames Ding.

Vorsichtig und mit viel Respekt gräbt er den eigenartigen Fund aus, wischt den gröbsten Dreck weg, begutachtet ihn von allen Seiten und ist total verunsichert.

„Was soll ich mit diesem Unding machen?"

„Es ist schwer, schmutzig und passt gar nicht in meine Tasche."

„Doch hier in der Nähe ist die Kommende des Johanniter­ordens."

„Ich werde wohl dort um Rat fragen."

Kommende Reiden
Der Komtur Philipp Riedesel, ein eigenwilliger, weitgereister Mensch, der stets eine offene Tür für fremde Pilger und Not­suchende hat, heisst den Fremden willkommen. Doch bald merkt er, dass dieser Besuch nicht alltäglich sein wird. Trägt doch dieser zerlumpte Geselle etwas Eigenartiges auf sei­nen Armen.

„Was kann das wohl sein?"

Neugierig versucht er die notwendigen Informationen aus dem wortkargen Gegenüber her auszufragen.

„Ah, gefunden unter einer umgestürzten Eiche", wiederholt der Komtur die stockenden Wortfetzen des Fremden. Eine lange und spannungsgeladene Stille herrscht nun im Raum.

„Es könnte ein Knochen eines riesigen Tieres sein", meint er nach geraumer Zeit. Er besinnt sich auf die karitative Tä­tigkeit des Ordens, müden und schwachen Pilgern Obdach und Nahrung zu geben. Deshalb bittet er den Gesellen in die Küche. Somit kann er Zeit gewinnen, um in Ruhe über den Fund nachzudenken.

Bis tief in die Nacht hinein brennt Licht in der Kommende. Dutzende Varianten gehen dem Komtur durch den Kopf.

Am nächsten Morgen

reitet der Komtur mit den Knochenfragmenten gegen Luzern.

Kurz vor Luzern hält er inne, bestaunt das prächtige Pano­rama und ist sich plötzlich seiner Mission nicht mehr sicher.

„Ist es richtig, dass ich in der Stadt um guten Rat frage?"

„Bei Renward Cysat, dem Stadtschreiber von Luzern, werde ich anklopfen."

„Er ist eine weltoffene und anerkannte Persönlichkeit. Er kann mir bestimmt weiterhelfen."

Langsam und etwas unentschlossen reitet er weiter und erreicht Luzern noch vor dem Eindunkeln.

Luzern
Renward Cysat ist über den unangemeldeten Besuch einiger­massen erstaunt. Etwas befremdet mustert er den Gast und fast irritiert denkt er:

„Ein Johanniter hier in Luzern, seltsam, was will er wohl von mir?"

„Was trägt er hier in seinen Händen?"

Der Stadtschreiber bittet den Gast in die Studierstube und hört sich die Geschichte an.

Später durchstöbern sie einige griffbereite Fachbücher und sind sich nach kurzer Zeit einig, dass es sich um Knochen eines riesenhaften Menschen handeln müsse.

„Hier — in diesem Buch — da ist der biblische Riese abge­bildet. Hier die Titanen, Giganten, Kyklopen, Argonauten!! Hier — Hier steht es sogar in der Bibel: 1. Buch Moses vor Sintflut: Riesen entstanden und nahmen sich Erdefrauen."

Cysat anerbietet sich nun, den Gast voll und ganz zu unter­stützen. Beide sind sich einig, dass weitere Beweisstücke notwendig wären, um sich der Sache ganz sicher zu sein.

Als erstes muss aber der Schultheiss informiert werden.

Luzern, Weinmarktplatz
Ludwig Pfyffer von Altishofen, Schultheiss von Luzern, infor­miert seine Bevölkerung höchst persönlich über den seltsamen Fund. Der Weinmarktplatz mit seinem spätgotischen Brunnen, von Meister Konrad Lux in den Jahren 1481 — 94 geschaf­fen, scheint ihm geeignet, um die interessante Neuigkeit zu verkünden. Rhetorisch sehr geschickt verpackt er die Sensati­onsmeldung so spannend, dass sein Ansehen für eine gewisse Zeit wieder gesichert ist.

„Die Luzerner können fortan mit ihrem riesigen Ahnen prahlen und den Nachbarn Angst einflössen."

Doch der Schultheiss warnt und beschwichtigt die Leute als er sieht, dass die Menschenmenge ziemlich aufgebracht ist und die Begeisterung fast überbordet.

„Ganz sicher sind wir noch nicht. Weitere Knochen müssen wir noch finden."

Am Abend trifft sich der Schultheiss erneut mit Cysat. Gemein­sam besprechen sie das weitere Vorgehen. Cysat erklärt sich bereit, mit zwei Gehilfen am nächsten Morgen nach Reiden zu reiten.

Am nächsten Morgen

macht sich Renward Cysat mit zwei Helfern bereit, um weitere Beweisstücke zu suchen.

Vor allem fehlt der Schädel, der ganz bestimmt einen wichtigen Hinweis ergeben kann.

Am gleichen Tag ist die Expedition schon vollendet. Der Schädel wird nicht gefunden.

Doch ganz erfolglos sind die Herren auch wieder nicht, treten doch weitere Knochenfragmente zutage.

 

Rathausturm Luzern
Auf der Fassade des Rathausturms findet sich doch noch ein echter Beweis für die Existenz des Riesen, des „Wilden Mannes".

Beim abendlichen Spaziergang durch die Stadt hält Ren-ward Cysat meistens inne und bewundert die grandiose Darstellung des Giganten. Bekleidet mit Lendenschurz und Blätterkranz, ruhend auf einer Wiese, einen entwurzelten Baumstrunk schwingend, symbolisiert er ungezähmte Kraft und Widerstand gegen Zwang und Unterwerfung.

Das bestärkt Cysat immer mehr, nach dem wahren Grund dieser „Riesengeschichte" zu forschen.

Ratshausturm:
Um 1505 erbaut und mit einem Bild des wilden Mannes geschmückt.

1601 – 1606 Weiterentwicklung in florentinischer Renaissance, aber mit einheimischer Dachform.

1924 Fassadengestaltung wurde entfernt.

1584 bei Cysat
Es dauert volle sieben Jahre bis Felix Platter, Professor der Medizin, sich von Basel nach Luzern bemüht, um die Gebeine zu prüfen. Platter zählt in dieser Zeit zu den einflussreichsten Wissenschaftlern.

„Es sind die Gebeine eines Riesen," meint der gescheite Herr aus Basel.

Nun war alles klar:

Die Luzerner hatten ihren Riesen.

Felix Platter 156 – 1614
Mediziner, Schriftsteller Stadtarzt und Professor der Universität Basel. Pionier der pathologischen Anatomie und Begründer der Gerichtsmedizin

Basel
Im Atelier von Hans Bock (dem Älteren).

Nach Angaben von Felix Platter fertigt der Zeichner Hans Bock eine vollständige Menschendarstellung an, die sech­zehn Werkschuh und vier Zoll in der Länge beträgt. Das sind ca. 5 Meter und 60 Zentimeter.

Die gefundenen Fragmente sind massgebend für die Propor­tionen des Gerippes.

Die zeichnerische Darstellung wird später nach Luzern ge­schickt. Im Rathaus kann man nun die Darstellung bewundern.