Der Sunnelunzi

Rätselhaft wie er in das einsame Seethal gelangte. Aber er war auf einmal da. Gott, wie er aussah! Verfötzelt von oben bis unten. Ohne Schuhe, ohne Hut, und ein Gesicht, behaart wie das eines Affen! Kein Arier, wirklich nicht, aber auch kein Jude. Eher ein Mongole. Und doch trug er einen gutchristlichen Namen: Lunzi hiess er, also Leonz oder Leonhard.
Er suchte keine Wohnung im Wiggertal, auch in Reiden nicht hätte auch keine bekommen. Er wusste das. Er war für die Höhle bestimmt, vielleicht sogar für die Hölle. Niemand meldet, wie er das Sandsteinloch gefunden hat. Ist auch egal. Wir normale Menschenwissen ja auch nicht so absolut sicher, warum wir von ungefähr da sind, Hütten bauen, Geld verdienen und Geld verlieren, Kinder haben oder auch keine, wieder verschwinden und restlosvergessen sind, wenn die Sonne erlischt. Nur einige Philosophen und Liebhaber des Zweckes behaupten sicher: woher, warum und wohin.
Kurz, der Lunzi war nun einmal da. Und es gefiel ihm offenbar ganz gut in seiner Höhle. Es gab damals noch andere Flurwohnungen ob Wikon, Reiden und Dagmersellen auf der Talseite der Wigger, die sich übrigens die Freiheit nahm, da zu fliessen, wo sie den geringsten Widerstand fand. Erst später wurden die Menschen so zahlreich im Tale und so schlau, dass sie den launischen Fluss zwingen konnten, schön brav und möglichst gerade nach der mächtigen Aare zu laufen und den Boden links und rechts in Ruhe zulassen. Aber im Innern der Erde fliesst ein Teil des Wassers immer noch, wie es will: das ist der geheimnisvolle „Hägeler“, den nur die Rutengänger, die über dunkle Kräfte verfügen, wirklich verstehen.
Der Lunzi war ein Liebhaber der Sonne, wie alle gesunden Lebewesen über dem Boden. Nur darum gefiel ihm das Loch in der kleinen Sandsteinfluh. Auch liebte er die Einsamkeit wie, alle Menschen, denen es bestimmt ist verachten zu können oder verachtet zu werden. Er kümmerte sich zwar nicht um seine Bestimmung, er war einfach da. Zur Einrichtung seiner Höhle brauchte er nicht viel und hatte auch nicht viel. Wozu auch! Er suchte Abfallstellen der übrigen Menschen, las sich aus was er brauchte an Geschirr und Kleid, und wenn es nicht langte, so nahm er ein ganz wenig von dem Überfluss der „besseren Leute“; Stehlen darf man so was bei ihm nicht nennen, das ertrüge kein guter Christ.
Die liebe Sonne, die ja keine Unterschiede kennt und niemanden liebt noch bevorzugt, schien wirklich an hellen Tagen gar warm auf die kleine Fluh im Seethal. Dann sass Lunzi gern vor seinem Loch und überlegte sich wie ein braves Tier, wo und wie er zu Nahrung und Pelz käme, ohne dabei Haue zu kriegen und Blut zu verlieren.
Für den langen Winter, den er als eine traurige Begebenheit hin nahm, hatte er sich rasch vorgesehen. Mit einem alten Grampel hatte er neben der Naturhöhle ohne Einsturzgefahr ein kleines zweites Loch geschaffen, dürres Laub und Lischen in Hülle eingebracht, auch drei Rossdecken gefunden, er fand nie in der Nähe, so schlau war er schon und aus einem Ziegenfell sich eine Schlafmütze gemacht.
Die grosse Höhle diente ihm als Wohnraum kochen tat er zumeist draussen, wenn er daheim war und als Magazin. Als Magazin? Nu ja. Von dem was das kleine Äckerlein vor der Höhle abwarf und was die herumlungernde Geiss an Milch spendete, konnte er doch nicht leben, wirklich nicht, denn Lunzi hatte stets Hunger wie ein sibirischer Wolf. Kurzum, er betrieb einen kleine Handel. Zuerst mit Besen aus Tannreisig und Steinweiden für Stube und Stall; auch mit Erd- Him- und Brombeeren; Pilze ass ja niemand, nur er, und es gab viele in der Gegend. Später handelte er mit Ziegenfellen und Rinderhäuten.
So lebte Sonnelunzi „wie man ihn spöttisch im Dorfe Nannte“ etliche Jahre. Man liess ihn gewähren, er stand ja niemand in Wege und verlangte keine Hilfe. Zwar gab es welche, die ihn fürchteten oder ihm misstrauten. Doch daran war nur sein Aussehen schuld. Selbst der Kaplan liess ihn in Ruhe, des Glaubens, der Lunzi werde sowieso eine Beute des Teufels. Jede Kreatur aus Fleisch und Blut bedarf irgendwie der Liebe. Warum nicht auch der Lunzi. Und siehe da, eines Tages brachte er ein Weiblein mit ins Seethal und verkroch sich damit in seiner warmen Höhle. Die Natur liebt Spässe, will sagen: Das Ding war zwar gering an Gestalt, aber sozusagen hübsch. Wo und wie er es aufgelesen und warum es mit ihm gegangen, hat man nie vernommen. „Eine Hexe“, tuschelten die Bäuerinnen und bekreuzigten sich, wenn sie vorübertippelte. Sie verkaufte Besen und Beeren und war stets schüchtern dabei, hatte ein feines Stimmlein. Man gewöhnte sich daran, dass der Sunnelunzi ein „Wildwibli“ besass, mit ihm frohr und hungerte.
Der Lunzi wurde jetzt gewerbiger. Er stand irgendwo einen kleinen mageren Esel. Der trug nun die Felle und Häute, und Lunzi soll mit ihm bis nach Burgdorf auf den Markt gezogen sein. Sein Fraueli bekam allmählich eine fülligere Haut und gefiel eines Tages dem Amtmann von Reiden, als sie ihm Stallbesen anbot. Oha, so ein grosser Dorfherr wähnt, er und Gott hätten das Heu auf der gleichen Bühne und jede Kuh frässe davon! Diesmal nicht. Das bezeugten die Kratzer im Gesicht des Abgeblitzten, von seinem Zorn und den Flüchen nicht zu reden.
Hass und Habsucht sind zwei arge Vögte des Menschen, machen ihn schlau und grausam. Auf einmal hiess es im Dorfe; „So kann es mit dem Sonnelunzi nicht länger bleiben, es ist ein Heide und lebt wie ein Heide. Und sein Weib ist eine Hexe, darum hat sie auch keine Kinder. Eine Schande ist es für die ganze Gegend! Sie müssen weg oder sich bekehren“. Ach mit dem armseligen Handel des Sonnelunzi und seiner Frau war es plötzlich dahin. Der Lunzi tröstete sein Weib umsonst, als sie ihm klagte, warum es nun so sei. Sie bekam Fieber und starb. Was tat der Unglückliche? Er verbrannte seine kleine Habe, schlug den Esel tot und schleppte ihn in den nahen Bach. In der Nacht hob er die tote Frau auf die Schulter, trug sie das Seethal hinaus, legte sie vor die Türschwelle das Amtmannes und ging mit fürchterlichen Verwünschungen auf und davon. Man hat ihn nie wieder gesehen. Rätselhaft wie er gekommen, war er gegangen.
Als der Amtmann in der Frühe aus dem Haus treten wollte, um das Vieh zu füttern, sah er vor der Schwelle die Leiche, erkannte sie sofort und erschrak derart, dass er umsank und seine Seele den Leib verliess. Noch lange nachher will man ihn um die Mitternächte gesehen haben, wie er ins Seethal zum Sunnelunziloch lief und wieder zurück.
Heute ist das Sunnelunziloch eine zweiteilige Sandsteinhöhle, in der die Kinder spielen. Davor liegt eine schmale Wiese auf der junge Nussbäume stehen. Kaum ein Mensch weiss etwas vom Sunnelunzi und ahnt, dass Grosses und Kleines letzten Endes das gleiche Schicksal hat.


Karte von 1880