Der Grütliverein Reiden

Auf den Spuren der Arbeiterbewegung im Wiggertal

Paul Huber

Im September 1892 traten mehr als vierzig Männer, vorwiegend aus Rei­den und Wikon, dem neu gegründeten Grütliverein Reiden bei. So beispielsweise der Commis Heinrich Fischer, der Schuster Jakob Pfenniger, der Schreiner Otto Gut, der Metzger Bonifaz Müller, der Knecht Blasius Fries, aber auch drei Lehrer. Das wissen wir aus einem Protokollbuch, das vor drei Jahren auf dem Estrich des Reidener Lehrers Hans Steiger entdeckt wurde, zusam­men mit Dokumenten über heftige gewerkschaftliche Auseinandersetzungen in der Maschinenfabrik Reiden gegen Ende und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg.

Von der liberalen Elite gegründet

(G)rütlivereine gab es in der Schweiz in wirtschaftlich stark entwickelten Regionen seit den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts. Es waren Vereine von Kleinbürgern, Handwerkern und Arbeitern. Ihr primäres Ziel war die patriotische Bildung für eine soziale Schicht, die von der politischen Mitwirkung weitgehend ausgeschlossen war. Das Motto: »Durch Bildung zur Freiheit». So übernahm der Schweizerische Grütliverein eine wichtige Rolle, als es im Rahmen der Revision der Bundesverfassung 1874 darum ging, das Referendumsrecht und verschiedene Sozialreformen voranzu­treiben. Der Name des Vereins nahm Bezug auf den mythischen Gründungs­ort der Eidgenossenschaft, das Rütli, in der Westschweiz, das «Grütli». Die Mit­glieder verstanden sich als gleichbe­rechtigt und benutzten untereinander auch die Anrede «Genosse». Ein zweites Ziel der Grütlivereine war die gegensei­tige solidarische Unterstützung der Ver­einsmitglieder in Notsituationen.
Der Grütliverein Reiden wurde aller­dings zu einem Zeitpunkt gegründet, als diese Organisation auf schweizerischer Ebene nicht mehr nur allgemein patri­otische Ziele und Bildungsziele verfolg­te. Sie hatte sich auch von der liberalen Bewegung, der sie ursprünglich nahestand, bereits stark entfremdet und den radikaler auftretenden Gewerkschaften und der aufstrebenden Sozialdemokratie angenähert.
Über die Gründe, weshalb ausgerech­net unter der Führung des Gerbers, Gemeindeammanns liberalen Grossrats und späteren Bankverwalters Willhelm Elmiger, einer dominanten Persönlich­keit im damaligen Reiden, eine Sekti­on des Grütlivereins gegründet wurde, lässt sich nur spekulieren. Dass aber gemäss Protokoll an der ersten Zusam­menkunft sofort zur Wahl eines Grün­dungskomitees geschritten wurde, lässt vermuten, dass das Vorhaben von lan­ger Hand geplant war und durchaus im Interesse führender liberaler Kreise in Reiden lag.
Diese hatten offensichtlich die Zeichen der sich im Zuge der Industrialisierung verschärfenden sozialen Frage erkannt und versuchten mit der Gründung des Vereins die wachsende Zahl von Hand­werksgesellen und Arbeitern im früh in­dustrialisierten Reiden politisch an sich zu binden.
Die schon an der zweiten Sitzung des Vereins verabschiedeten Statuten be­schreiben dessen Aufgabe so: einerseits sollten die Mitglieder «zu tüchtigen und brauchbaren Bürgern unseres Vaterlan­des» ausgebildet, andererseits «kranke Mitglieder sowie die Hinterlassenen der verstorbenen Mitglieder» unterstützt werden.
Dazu kam ein politisches Bekenntnis: «In politischer Beziehung huldigt er getreu der bisherigen politischen Rich­tung unserer Gemeinde einem gesun­den Fortschritt in kantonalen und eid­genössischen Fragen und befolgt eine liberal demokratische Politik».
Die enge Anlehnung an die Liberalen wurde in Reiden sehr schnell offenkun­dig. Wilhelm Elmiger referierte schon an einer der ersten Versammlungen über das Proporzwahlrecht, etwas, was die Freisinnigen auf der Luzerner Land­schaft dringend brauchten, wenn sie ihre Stellung im Grossen Rat des Kan­tons Luzern zahlenmässig verbessern wollten.

«Durch Bildung zur Freiheit»

Das Alltagsleben des Vereins ist in den Protokollen gut dokumentiert und zeigt dessen zwei Gesichter: das politische und das gesellschaftlich-gesellige.
Vierzehntäglich oder monatlich fanden meist an Sonntagen Zusammenkünfte statt. Die General- und die Quartalsver­sammlungen waren besonders wich­tig. Wer unentschuldigt nicht teilnahm, wurde mit einer Busse belegt. Die Ver­anstaltungen begannen jeweils mit dem Einzug der Mitgliederbeiträge von meist 60 Rappen pro Monat. Auch die Beiträ­ge an die Kranken- und Sterbekasse des Schweizerischen Grütlivereins wurden an der Versammlung eingezogen.
Dem patriotisch-politischen Auftrag kam der Verein mit Referaten zu ver­schiedensten lokalen, kantonalen oder eidgenössischen Themen nach: zur Un­entgeltlichkeit der Lehrmittel, zum Ta­bakmonopol, zum Recht auf Arbeit, zur Krankenpflege, zur Verstaatlichung der Eisenbahnen und so weiter.
Eine vereinseigene Bibliothek im Res­taurant Mohren ermöglichte den Mitgliedern die Lektüre von Büchern und Zeitschriften, die der Verein abonniert hatte. Hie und da wurden Broschüren bestellt, die mit einem Laufzettel verse­hen von Mitglied zu Mitglied weiterge­reicht wurden. Jedes Mitglied war ge­halten, den «Grütlianer» zu lesen. Der in Luzern erscheinende «Demokrat» bot politischen Stoff und Lesestoff für eher radikalere und der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften nahestehendere Genossen. Abonniert wurde in drei Exemplaren auch der «Aargauische Arbeiterfreund», eines für Dagmersel­len, eines für Nebikon und eines für den Vorstand.

Gasthaus Mohren um 1901Im Gasthaus Mohren fanden die Versammlungen der Grütlianer statt. Dort befand sich auch die Bibliothek mit Büchern und Zeitungen.

Solidarisch, und ...

An den Versammlungen wurde immer wieder Geld gesammelt oder aus der Vereinskasse bewilligt, um von Unfällen betroffene Grütlianerfamilien zu unter­stützen. Geld gesprochen wurde auch für andere Sektionen oder für streiken­de Arbeiter in der ganzen Schweiz. So beispielsweise für die streikenden Holz­arbeiter in Luzern 1908 zehn Franken, für streikende Sticker in Arbon eben­falls zehn Franken, 1914 für streikende Schneider in Luzern fünf Franken. 1898 wurde ein Beitrag an die ungedeckten Prozesskosten des «Centralschweizer Demokrat» beschlossen, der wegen ei­nes Verfahrens vor Gericht stand, das den Arbeiterinnenschutz betraf.
Die Sektion nahm meistens auch an den Maifeiern in Zofingen, Oftringen oder Safenwil teil, und sie schickte ­wenn es die finanziellen Mittel erlaub­ten — Mitglieder an schweizerische oder kantonale Delegiertenversammlungen, über die an der darauffolgenden Sekti­onsversammlung berichtet wurde.
Daneben hatte die Geselligkeit für die Mitwirkung im Verein eine besondere Bedeutung. Sehr bald nach der Ver­einsgründung wurde ein Grütli-Män­nerchor gegründet. Später kam eine Grütli-Schützengesellschaft dazu. Eini­gen Mitgliedern schien es — das zeigen verschiedene Anträge an Versamm­lungen — besonders wichtig, eine Ver­einsfahne zu haben. Schliesslich wurde eine Fahne gekauft, wegen der knap­pen Mittel aus Baumwolle statt aus Seide. Im Spätherbst wurde jeweils ein spezieller Anlass durchgeführt, die No­vemberfeier mit Tanz, Theaterauffüh­rung oder Gesangsvortrag.
Es ist schwierig zu beurteilen, welche Bedeutung und Wirkung der Grütli­verein für das öffentliche Leben der Gemeinde Reiden und des unteren Wiggertals hatte. Der fulminanten Gründung folgten wellenartig unter­schiedlich erfolgreiche Jahre. Die Mit­gliederzahl schwankte erheblich zwi­schen 15 bis zu mehr als 40 Genossen. Die Veranstaltungen waren oft schlecht besucht und auch die Besetzung der Vereinsorgane fiel nicht immer leicht.

Schmid Athanasius, Verwalter und Gemeindepräsident. Elmiger Wilhelm, Gemeideammann. Weber Johann, Waisenvogt. Kronenberg Josef Ersatzmann.Wilhelm Elmiger, Gründungspräsident des Grütlivereins Reiden: Unternehmer, Gemeindeammann und -präsident (zweiter von links), Grossrat, Bankverwalter.

... politisch zögerlich

Der Jahrzehnte dauernde Richtungs­streit innerhalb des Schweizerischen Grütlivereins spiegelte sich auch im Vereinsleben der Reidener Grütlianer. Während für die einen das gemütliche Zusammensein und die solidarische Sterbe- und Krankenkasse im Vorder­grund standen, drängten andere darauf, dass sich der Verein in der drängenden sozialen Frage entschiedener positio­nierte.
Es ist interessant, dass sich diese Kluft schon im Gründungsjahr des Vereins auftat. Nach dem Besuch der Delegier­tenversammlung berichtet Gründungs­präsident Willhelm Elmiger enttäuscht, dass der Schweizerische Grütliverein mit seinen Beschlüssen und den neuen Statuten «ganz auf den sozialdemokra­tischen Weg eingetreten» sei und dass sich dies negativ auf den Grütliverein Reiden ausgewirkt habe, «indem seit der Annahme der neuen Statuten die Mitgliederaufnahme im Stillstand» stehe.
Vor so einer Entwicklung hatte er schon im Vorfeld der Delegiertenver­sammlung gewarnt. Der Grütliverein habe «noch mit genug Vorurteilen beim Landvolk zu kämpfen, ohne dass er noch die rote Fahne aufhisse ...» Die Sache entwickelte sich ganz offensicht­lich nicht im Sinn des einflussreichen freisinnigen Gründungspräsidenten.
War das der Grund, weshalb er als Prä­sident zusammen mit dem gesamten Vorstand schon nach einem Jahr das Handtuch warf?
Der Zwiespalt zwischen der klein­bürgerlich ländlichen Mitgliedschaft der Sektion Reiden und der Nähe des Schweizerischen Grütlivereins zu Po­sitionen der Sozialdemokratie scheint in den Protokolleinträgen immer wie­der durch. Wie sollte der Grütliverein auf die auch im zunehmend industri­alisierten Reiden wahrgenommenen sozialen Ungerechtigkeiten reagieren? Nur Abgrenzung gegenüber klassen­kämpferischen oder gar anarchistischen Tendenzen reichte ja nicht aus, um dem Grundübel zu begegnen, das der Nachfolger von Willhelm Elmiger 1893 in der «heutigen Gesellschaftsordnung» sah; «dem sichtbaren Contrast zwischen Reichtum und Armut, in dem Vor- oder Sonderrecht, das sich die Zahl der obe­ren 10'000 anmasst, um das Eigentum der Millionen Brüder zur Befriedigung ihrer Üppigkeit zu verschlingen».
1901 fusionierte der Grütliverein auf schweizerischer Ebene in der soge­nannten «Solothurner Hochzeit» mit der Sozialdemokratischen Partei, blieb aber eine selbständige Organisation.
Dies entsprach in keiner Weise den Vor­stellungen der traditionellen Mitglied­schaft des Reidener Vereins und es kam zum Bruch.
Im Versammlungsprotokoll des Grütli­vereins Reiden vom 3. November 1901 lesen wir, dass in Anwesenheit von zehn Genossen eine geheime Urabstimmung zur gesamtschweizerisch diskutierten Frage des Anschlusses des Grütliver­eins an die Sozialdemokratische Partei durchgeführt wurde. Allein die schwa­che Beteiligung bei einem so wichtigen Geschäft spricht Bände; das Resultat: neun Stimmen für Nein und eine für Ja. An der Versammlung einen Monat spä­ter, an der die Wahl des Vorstandes und der Rechnungsrevisoren hätte stattfin­den sollen, waren nur sieben Genossen anwesend und die Wahlgeschäfte wur­den auf die nächste Sitzung verscho­ben, und dann fehlt eine Seite im Pro­tokollbuch, herausgeschnitten! Leider, denn sie hätte uns wohl gezeigt, wie es zur kurzzeitigen Auflösung des Vereins kam. Der nächste Protokolleintrag be­trifft eine Versammlung ein Jahr später, und handelt von der Neugründung des Grütlivereins Reiden. Das Mitgliederver­zeichnis zeigt, dass gerade noch fünf der ehemaligen Genossen dem wieder zum Leben erweckten Verein beitraten. Auch der Vereinsgründer, Wilhelm El­miger, hatte den Verein verlassen.

Das Ende: im Klassenkampf zer­rieben

Eine entscheidende Wende brachte dann das Kriegsjahr 1916. Der Schwei­zerische Grütliverein kündigte die 15 Jahre vorher begründete Zusammen­arbeit mit der Sozialdemokratie wieder auf. Die grundsätzlich antimilitaristische Sozialdemokratie hatte sich endgültig aus dem helvetischen Konsens, dem wegen der Kriegsbedrohung geschlos­senen sogenannten Burgfrieden mit den bürgerlichen Parteien, verabschie­det. Die schlimmen sozialen Folgen, die der Krieg für die Arbeiterfamilien hat­te, veranlassten die Sozialdemokraten, wieder einen klar antikapitalistischen, antimilitaristischen und internationalis­tischen Weg einzuschlagen.
Mit 20 zu 5 Stimmen sprachen sich auch die Reidener Grütlianer gegen die Par­teieinheit mit den Sozialdemokraten aus. Ein Jahr später, 1917, verliess der Verein auch die Arbeiterunion Luzern. Man wollte oder musste sich wohl unter dem zunehmenden dörflich-politischen Druck von den Sozialdemokraten und den Gewerkschaften abgrenzen. Dass es diesen gab, belegt dieser Protokol­leintrag, bei dem es wohl um den lin­ken «Centralschweizer Demokrat» ging: «Es wurden zwei Vertreter, Urban Steger und Adolf Keist, in die Kantonale Re­daktionskommission gewählt». Nach der Wahl wurden die Vereinsmitglie­der verpflichtet, «die Namen derselben geheim zu halten, damit keine Unan­nehmlichkeiten vorkommen.»
Es ist erstaunlich, wie wenig sich der Erste Weltkrieg im Protokollbuch der Reidener Grütlianer niederschlägt; ei­gentlich nur, wenn es um Sitzungsab­senzen von an die Grenze abkomman­dierten Mitgliedern ging. Sogar der die Schweiz erschütternde Landesstreik vom Herbst 1918 findet nur einmal Er­wähnung. Das ist bemerkenswert, wa­ren doch in grosser Zahl Männer aus der Region Wiggertal zum bewaffneten Ordnungsdienst nach Zürich abkom­mandiert. Allerdings teilten die Reide­ner Grütlianer die ablehnende Haltung des Schweizerischen Grütlivereins ge­genüber dem Landesstreik nicht. Im Dezember 1918 findet sich der folgen­de, zaghaft aufbegehrende Protokol­leintrag: «Zum Generalstreik war man mit der Administration der Grütlianer nicht ganz einverstanden, da sich die­selben zu stark dagegen aussprachen».
Der Eintrag vom 8. November 1919 auf der hintersten Seite unseres Proto­kollbuchs ist sehr kurz. Es wurde der bescheidene Betrag von 4 Franken 20 Rappen eingezogen. Der Theaterkom­mission wurde die Kompetenz erteilt, eventuell ein anderes Stück zu wählen, und dann: «Im Verschiedenen nichts Wichtiges».
In der Tat, das Wichtige passierte in den letzten Kriegsjahren und danach längst ausserhalb des Einflussbereichs des Grütlivereins. Zwar waren am 10. Mai 1919 noch Männer mit Berufen dem Grütliverein Reiden beigetreten, die wir unter der Mitgliedschaft des Grütli­vereins Reiden sonst nicht finden: Karl Bo(h)rer, Schlosser, Alfred Graf, Dre­her, Johann Wolf, Weber, Julius Müller, Hilfsschlosser, und Jakob Weismüller, Eisenhobler, und das mitten in einem Arbeitskampf der Metallarbeitergewerk­schaft mit der Maschinenfabrik Reiden. Mindestens eine dieser Personen sollte in diesem und anderen Lohnkämpfen in dieser Firma eine wichtige Rolle spie­len.

Volksbank ReidenDer unternehmerische und politisch umtriebige Wilhelm Elmiger wurde 1909, wenige Jahre nach Aufgabe der Gerberei, erster Verwalter der Volksbank Reiden.

Foto: Paul Huber


Wie der Reidener kränkelte auch der Schweizerische Grütliverein zu dieser Zeit bereits stark und wurde 1924 auf­gelöst. Er hatte seine Rolle als Anwalt der Arbeiterschaft eingebüsst. Deren Vertretung hatten auch in Reiden radi­kaler auftretende Organisationen, unter anderem die Gewerkschaften, über­nommen.

Quellen:
Originalbücher und Unterlagen des Grütlivereins Reiden. Sie befinden sich heute im Staatsarchiv Luzern.

Paul HuberZum Autor:
Dr. Paul Huber studierte Geschichte, Englische Literatur und Politologie in Zürich. Von 1987 bis 2003 war er Re­gierungsrat des Kantons Luzern (SP). Seit seinem Rücktritt engagiert er sich in zahlreichen kulturellen und sozialen Organisationen.