Das hochmütige Schlossfräulein
nach Ernst Jenny
In dem Weiler Liebigen bei Pfaffnau lebte ein armer aber tüchtiger Jüngling mit seinem betagten Vater zusammen in einer kleinen Strohhütte. Es kam vor, dass er an den Frontagen in dem Hof des Zwingherrenschlosses Liebigen erscheinen musste, um die Jagdhunde in Obhut zu nehmen. Eines Tages ritt der rohe und verhasste Herr vom Schloss Liebigen mit seiner stolzen Tochter, die sein einziges Kind war, auf die Jagd. Durch Forst und Feld, bergab und bergauf ging die Pirsch. Dabei geriet die Gesellschaft ganz auseinander. Und das Ritterfräulein sah sich plötzlich ganz allein in einer ihr unbekannten Gegend. Sie bekam Angst und rief um Hilfe. Umsonst! Kein Mensch vernahm ihre Stimme. Plötzlich stürmte ein Rudel Wildsauen daher, voran ein riesiger Eber. Und das Fräulein wäre verloren gewesen, wenn nicht von der anderen Seite her fünf grosse Jagdhunde, angeführt vom Liebiger Burschen, aufgetaucht wären. Die Hunde stürzten sich auf den Eber, der sich rasend wehrte, schliesslich aber doch dem Spiesse des starken Jünglings erlag. „Wer bist du?“ Fragte das Fräulein, das eben noch gezittert hatte, mit hochmütiger Stimme. „Ich heisse Gerhart und bin euer Untertan“, gab sich dieser zu erkennen. „Es war unnötig, hier zu erscheinen“, entgegnete sie scharf, „ich wäre mit dem Kerl da“ – sie zeigte auf den toten Eber – „schon fertig geworden“. Der Jüngling zog die Augenbrauen hoch und schwieg. Da schlug sie ihm die Reitpeitsche über den Kopf, dass er blutete, und höhnte: „Damit man nicht glaube, der Eber habe vor dir Angst gehabt“. Nun hob der kraftvolle Jüngling den Eber in die Höhe, trug ihn an den Rand einer nahen Sandsteinfluh und warf ihn hinunter. „Damit man nicht glaube, der Eber habe vor euch Angst gehabt“, rief er der Reiterin zu und führte sie und das Pferd behutsam auf den bestimmten Halaliplatz. Drei Tage später, als Vater und Sohn beim Kienspanlicht in ihrer Hütte ein Magersüpplein löffelten, klopfte es an die Türe. Der Jüngling trat hinaus. Vor ihm stand das Schlossfräulein, neben ihr ein riesiger schwarzer Hund. „Begleite mich ein Stück weit“, befahl sie, „es ist dunkel!“ Der Jüngling ahnte nichts Gutes, ging aber ohne Furcht mit. Am Waldrand oben hielt sie an und sprach mit veränderter Stimme: „Ich muss den Schlossherrn von Wikon heira-ten, mein Vater will es so. Aber ich hasse den Wikoner, er ist ein Wüstling. Ich liebe dich. Töte ihn, aber sei klug!“ Erstaunt fragte er: „Wie soll ich das verstehen? Vor drei Tagen habt ihr mich geschlagen, und jetzt redet ihr so?“ Sie lachte: „Du brauchst es nicht zu verstehen, ich begehre dich, und das genügt!“ Und sie küsste ihn. Der schwarze Hund knurrte dumpf. Die Woche darauf fand im Schloss Liebigen ein wüstes Gelage statt, an dem der Herr von Wikon die Braut zugesprochen bekam. Auf dem Heimritt in der Nacht wurde der Betrunkene vom Rosse gerissen. Man sah ihn nie wieder. Das Pferd kehrte allein nach Schloss Wikon zurück. Bald darnach wurde der Jüngling auf das Schloss Liebigen gerufen und vor das Fräulein geführt. Sie trug ein rotes Kleid. „Komm!“ sprach sie und stieg mit ihm zuoberst auf den Bergfried. „Ich bin zur Lust bereit, nimm mich!“ „Niemals!“ rief er, „ich bin ein Mörder!“ und wich gegen den Mauerkranz aus. „Und was bin ich?“ zischte sie. „Eine Teufelin!“ rief er. Da stiess sie zu, er taumelte und stürzte in den Abgrund. Sogleich erhob sich ein rasender Sturm und Blitze zuckten. Das Fräulein von Liebigen verwandelte sich in eine rote Hexe und der mitgeführte Hund in einen schwarzen Eber. Beide fuhren sogleich durch die Lüfte und verschwanden hinter einer dunklen Wolke. Der unglückliche Vater des Jünglings rief die schon längst erbitterten Hörigen und Leibeigenen zu-sammen. Sie drangen mit einer List ins Schloss Liebigen ein, erschlugen den grausamen Herrn und zerstörten die Burg, von der heute rein nichts mehr zu sehen ist. Noch lange hörte man in dunklen Nächten in der Luft ob der zerstörten Burg ein Lachen und Schreien und tierisches Grunzen. „Die rote Hexe!“, flüsterten die Bewohner und bekreu-zigten sich. Bald darauf brannte jeweils ein Haus in der Umgegend nieder, von dem jedermann wusste, dass darinnen ein Mann und eine Frau in unheiliger Liebe lebten.