Der unheimliche Hühnerbeschützer

Im Reidermoos, das sich östlich von Reiden gegen die Anhöhe Äbnet erstreckt, hielt eine Frau eine stattliche Schar Hühner, die sie Untertags im Freien laufen liess. Da ihr Haus in der Nähe des Waldes gelegen war, kam es öfters vor, dass der Habicht sich eines ihrer Hühner holte. Dieser Tagraubvogel, der in Wäldern nistet, wird auch Hühnervogel genannt, weil er mit Vorliebe sich an diesem wehrlosen Federvieh vergreift. Ein vorbeiziehender Zigeuner bot der Frau gegen gute Bezahlungen Schutzmittel gegen den gefürchteten Hühnervogel an. Noch so gerne willigte die Frau in den angebotenen Handel ein und erfuhr nun vom Fahrenden, dass sie in Zukunft ihre Hühner am Karfreitag fasten lassen müsse. Vorerst hatte die Frau Zweifel an der Wirksamkeit dieses Ratschlags, doch kaum war der erste Karfreitag vorbei, liess der Habicht die Hühner in Ruhe.
Eines Tages kam ein Kapuziner des Weges und bewunderte die vielen prächtigen Hühner, die völlig ungeschützt im Freien ihr Futter nach Belieben zusammen pickten. Erstaunt fragte er die Frau, ob sie nicht Angst vor dem Hühnervogel habe, so doch ihr Grund und Boden unmittelbar an den Wald grenze. Da erzählte sie ihm vom Ratschlag des Zigeuners und dass ihr Federvieh seither vom Hühnervogel verschont geblieben sei. Nachdenklich betrachtete er die Hühnerschar und forderte die Frau auf: "Schaut über meine rechte Schulter, dann werdet ihr erkennen wer Eure Hühner beschützt!" Sie tat, wie ihr geheissen, und erblickte einen Mann mit Hörner und Bockfüssen, der die gackernden Hühner hütete. Zutiefst erschrocken rief sie "Gott der Allmächtige steh mir bei – das ist ja der Leibhaftige!"
Ihr wurde gewahr, dass der Teufel sie zum Aberglauben verführt hatte. Reumütig schlug sie ein Kreuzzeichen und versprach dem Kapuziner bei allen Heiligen, ihre Hühner nie mehr an einem Karfreitag fasten zu lassen. Von dem Tag an erschien der Hühnervogel wieder und schlug gelegentlich ein Huhn. Früher hatte die Frau über sein Erscheinen geklagt, jetzt aber war sie darüber erleichtert und dankte Gott, dass sie den unheimlichen Wächter losgeworden war.

Der Ungeist auf dem Spitzhubel

Westlich von Reidermoos erhebt sich der Spitzhubel. Auf der Südseite hat er eine glatte Stirn, über welcher sich kräftiger Mischwald lockt. Der Hügel ist nach Nord, West und Süd auffallend steil, spitz sich über Reidermoos besonders zu, so dass kein Wegunmittelbar hinauf führt. Er bietet einen ungewöhnlichen Talblick und reizt die Phantasie des Menschen.
An gewissen Tagen erschien einstmals dort oben ein Wesen, halb Tier und halb Mensch. Es trat aus dem Walde, reckte drohend den hässlichen Kopf, schnob, stampfte und verschwand. Namentlich im Vorfrühling und im Spätherbst war der Geist zu sehen. Und allemahl wenn er sich gezeigt hatte, in der Regel bei schönem Wetter, begann sich bald der Himmel zu verfinstern, Winde sprangen auf die grossen Wälder um das Wiggertal erbrausten, das Vieh wurde unruhig in den Ställen und brüllte, die Hunde strolchten herum und die Katzen mauten.
In die Menschen, namentlich in die Burschen und Mädchen, fuhr eine Art Fieber, das Blut rumorte, erfüllte die Burschen mit Rauflust und die Mädchen mit Sehnsucht. Der Pfarrer von Reiden ging Sorgevoll herum und mahnte zu Zucht uns Ehrbarkeit.
An einem föhnigen Märzmorgen, als die Luft wieder so verführerisch warm und aufregend in den Adern der Menschen fuhr, wollte eine fromme Witwe aus Angst um ihren choldernden Sohn auf den Spitzhubel gehen, wo sich der böse Geist tags zuvor gezeigt hatte. Ein kleines Kreuz tragend und ununterbrochen betend, stieg sie von Reidermoos nach dem Äbnet hinan.
Als sie dort oben angekommen war, wusste sie plötzlich nicht mehr, wo sie sich befand. In ihrer Not fiel sie auf die Knie und rief die Mutter Gottes laut um Hilfe an. Und siehe! Maria stand neben ihr, hob sie auf, führte sie ein Stück weit nach Westen und verschwand wie ein Traum. Die fromme Frau fand nun leicht den Weg auf den Spitzhubel hinaus.
Trotzdem die Buchen und Tannen unheimlich rauschten und in den Lüften ein seltsames Stöhnen und Dröhnen war, fürchtete sich die Frau nicht und war nur ein wenig erstaunt über den gar so jähen Abfall des Hügels. Als sie die Stelle erreichte, an der man den Geist gesehen hatte, stiess sie das Kreuz in den Boden und betete drei Vaterunser…
Plötzlich standen Wald und Wind still. Ein unbeschreibliches tierisches Gebrüll voll brünstiger Wut erscholl und ein roter Feuerschein fuhr über den Spitzhubel in Richtung Letten.
Die Frau betete abermals drei Vaterunser. Und abermals brüllte der Ungeist, brausten Wald und Luft und fuhr der rote Feuerschein. Das wiederholte sich zu neuen Malen und erst jetzt war die Macht des Geistes auf dem Spitzhubel für immer gebrochen.
In froher Zuversicht, doch unterwegs beständig betend, stieg die fromme Witwe ins Dörflein hinab. Ihr braunes Haar war schneeweiss geworden. Ihr choldriger Bube wurde bald ein braver Bursche, und gleich erging es allem Jungvolk. Es kam eine schöne Zeit für die Menschen und alle Kreatur.
Man erzählt auch, der verschwundene Ungeist sie niemand anders als der leibhafte Teufel gewesen.

Spuk im Reidermoos

Aufzeichnungen von Hans Marti

Die nachfolgend geschilderten Spukgeschichten wurden mir in freundlicher und sehr Verdankens werter Weise von Hans Zimmerli-Hediger, Kommendestrasse 1, Reiden, erzählt. Getreu seinen Ausführungen werden sie hier wiedergegeben.

Der Schuhmacher und das nächtliche «Säuli»

Ein Schuhmacher auf dem Spitzhubel im Reidermoos — ein Ahne unseres Erzählers — ging öfters berufsmässig auf die Stör, so auch ins benachbarte Wikoner Hintermoos. Als er einmal, von dort kommend, am bereits ein gedunkelten Abend heimwärts unterwegs war, bemerkte er unverhofft ein «Säuli», das vor ihm herlief. Als dieses nicht verschwinden wollte, dachte der Heimkehrer, er nehme es in seine Schusterschürze. Kaum war es dort drinnen verstaut, hörte er es vom Spitzhubel her rufen: «Wo isch mis Rageetli, wo isch mis Rageetli?» Und gleich darauf tönte es aus des Schusters Schürze: «Hihi, hihi, is Rucklis Sack!» Von unheimlichen Gefühlen übernommen‘ liess er das «Säuli» sofort fallen, und verschwunden war es. Gleich darauf bekam der Geschockte einen unglaublich gross geschwollenen Kopf. Zu Hause sahen seine Angehörigen erst noch, wie er totenbleich war. Eine von ihnen, die Urgrossmutter unseres spontan, sie habe schon «ein Mittali» dagegen. Sie nahm einige geweihte Palmenzweige, legte sie in den Feuerherd, zündete sie an, und gleichzeitig hatte der Schuhmacher den Kopf darüber zu halten. Vorher war ihm noch ein weisses Tüchlein darauf gelegt worden. Jetzt besprengte ihn die Urgrossmutter mit Weihwasser, sprach dazu ein Gebet, und im Handumdrehen war die Geschwulst verschwunden.

Der mit Osterkohle geschossene Hase

Auf der Allmend über den Höhen des Reidermooses, gegen die Geissmatt zu, lagen Jäger ihrem Waidwerk ob. Unversehens sprang da ständig ein dreibeiniger Hase vor ihnen her. Sie pulverten auf ihn los, aber er fiel nicht um: sondern hüpfte munter weiter. Jetzt ahnten die Jäger, dass da «etwas nicht mit rechten Dingen zugehe». Einer von ihnen ging heim, zerrieb Osterkohle und mischte sie unter das Schiesspulver. Und jetzt, gleich beim ersten Schuss, fiel der Hase getroffen um, aber er war zugleich auch spurlos verschwunden. Kurz darauf vernahm man, dass zur gleichen Zeit, als der Hase seinen Schuss erhielt, eine alte Frau im Lehngraben (Richtung Wikoner Moos) lahm geworden sei. Und sie sei dies geblieben. Von ihr wurde erzählt, dass die hexen könne.

Der Kaplan auf der Jagd, der nicht mehr weiter kam

Am gleichen Ort, wo das oben Geschilderte geschah, ging ein Kaplan regelmässig zu Pferd auf die Jagd. Möglicherweise konnte das auch ein Johanniter gewesen sein, meinte Hans Zimmerli.
Eines Tages kam der Jäger wie gebannt nicht mehr von der Stelle. In einem Baum über ihm sah er ein fürchterliches Ungeheuer, ein riesiges, urtümliches Wesen. Der Kaplan rief und schrie aus Leibeskräften um Hilfe. Leute, die das hörten, eilten hinzu. Diese sahen aber weiter nichts, sondern lediglich, dass der Kaplan wie Espenlaub zitterte. Nachdem er sich etwas erholt hatte, führten sie ihn samt dem Pferd vom Ort des Unheils weg. Von da an ging der Kaplan nie mehr auf die Jagd.